4. Lukanga-Brief

Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins Innerste Deutschlands



Ein Artikel aus Depesche 25+26/2006

Berlin, den 6. September 1912

Mukama! 

Du fragst, wozu die Wasungu Wagen gebrauchen und weshalb sie allesamt hin und her fahren? So denke an den Weg von Niansa nach Rubengera. Jetzt geht dort ein Träger vier Tage, ein Bote zwei. Der Sungu würde einen Eisenbalkenweg bauen, damit der Bote in einem Tage hinkommt. Um den Weg zu bauen, müssen Tausende Menschen dorthin gehen und arbeiten und zurückgehen. Andere müssen den Arbeitern Nahrung und Brennholz bringen. 


Eisenbahn, wirtschaftliche Entwicklung, Fortschritt und Kultur

Die Arbeiter bekommen Lohn. Den wollen sie ausgeben. Deshalb muss ein Inder mit vielen Waren, Stoffen, Mützen, Perlen und Schnaps kommen. Dann ein Sungu, der dabeisteht, schreit und aufschreibt. Dann Waren für den Sungu. Dann Träger, die Holz und Steine für ein Haus für die Waren des Sungu bringen. Dann ein Sungu, der diese Waren zählt und aufschreibt und eine Abgabe dafür einnimmt. Auch für den muss ein Haus gebaut werden und ein zweites für den, der aufpasst, dass der Geldeinnehmer das Geld nicht für sich behält. So sind wir schon mitten in einem „gesunden“ Wirtschaftsleben oder in einer „gesunden wirtschaftlichen Entwicklung“. Es kommt dann ein Sungu, der von dem Betrieb Bilder macht und ein Buch darüber schreibt. 

Es wird ein Haus gebaut, in dem die Wagen der Eisenbahn repariert werden. In dem Hause arbeiten Menschen, die mit den Wagen geholt werden. Dazu braucht man Kohle und Holz, die holt man mit den Wagen und heizt die Maschine des Wagens mit Kohlen. Man baut also die Wagen, um Kohlen zu holen und holt Kohlen, um die Wagen zu bauen. Betrieb, Verkehr, Rauch, Lärm und Fortschritt, also das, was die Wasungu Kultur nennen, ist dann im Gange.


Polizei und Gefängnisse

Auch siedeln sich Kaufleute, Schnapsverkäufer und käufliche Mädchen an, um den Arbeitern das Geld wieder abzunehmen. Weil dann durch die Begehrlichkeit, die in den Arbeitern geweckt wurde, und durch den Schnaps Unordnung entsteht, müssen bewaffnete Aufseher mit den Wagen gebracht werden und andere Männer, die aufschreiben, welcher Art die Unordnung ist und wie das heißt, was die Arbeiter Unordentliches getan haben. 

Für diese Schreiber aber muss wieder ein Haus gebaut werden, und damit die Arbeiter, die Unordentliches getan haben, nicht nach Hause gehen, bevor alles fertig aufgeschrieben ist, müssen Käfige gebaut werden, in die man die Arbeiter einsperrt, füttert und bewacht. Es müssen aber wieder mit den Wagen Kohle und Eisen geholt werden, um die Gitterstäbe der Käfige zu machen.

Dann muss Wasser in die Häuser der Schreiber und Aufseher geleitet werden – und künstliches Licht, damit auch nachts geschrieben werden kann, wenn die Natur es verbietet. 

Regierung

Dann muss ein Haus gebaut werden für den Mann, der aufschreibt, welche von den Schreibern „Herr Ober“ heißen und ein anderes, in dem ausgedacht wird, wieviel jedes Haus bezahlen soll, um die Aufseher und die Schreiber zu bezahlen. Dies alles nennen sie die „Regierung”.

So entsteht eine große Stadt, eine Kulturzentrale, wie die Wasungu sagen, und alles nur, weil ein Bote den Weg von Niansa nach Rubengera schneller zurücklegen sollte. Diese Stadt vergrößert sich und dann müssen mehr Wagen fahren und immer mehr. Dann braucht man Häuser, in denen die Wagen untergestellt werden und wieder Menschen, die diese Häuser bauen, bewachen, zählen und darüber schreiben. 


Irrenhäuser

Weil aber die Menschen in solch einer Stadt und bei solch einer Beschäftigung verrückt werden, muss man große Häuser außerhalb der Städte bauen, in die man die Verrückten einsperrt. Dadurch entstehen wieder Arbeit und neues wirtschaftliches Leben. Die aber, die noch nicht ganz verrückt sind, müssen, um nicht völlig verrückt zu werden, sehr oft aus der Stadt hinausfahren, um in der Steppe und im Urwald zu schreien, Blumen abzureißen, Tiere aufzuspießen oder zu verscheuchen. Deshalb fahren wieder sehr viele Wagen mit Menschen hin und her. 


Wirtshäuser

Außerdem aber müssen in der Steppe und im Urwald Häuser gebaut werden, in denen diese Halbverrückten Schnaps und Rauchrollen (Zigarren) kaufen können, und es müssen Kästen aufgestellt werden mit Maschinen, die Radau machen, was die Wasungu lieben. Sie machen dazu viel Rauch, gießen Flüssigkeit in ihren Hals und brüllen einander an. Dann lassen sie Bilder von sich machen mit Trinkgefäßen in der Hand. 

Damit man aber in der Steppe weiß, wo die Schnapshäuser liegen, müssen an den Wegeecken Schilder aufgestellt werden, auf denen der Name der nächsten Schnapsstelle angeschrieben steht und wie weit es ist. Diese Schilder wieder müssen bewacht werden, damit sie keiner mitnimmt. Dazu werden bewaffnete Wächter angestellt. Für die werden wiederum Häuser gebaut. Weil die Schilder Geld kosten, wird der Weg durch einen Baum versperrt, der nur geöffnet wird, wenn der Wanderer Geld bezahlt. Es muss dann bei diesem Schlagbaum ein Haus gebaut werden, worin der wohnt, der das Geld einsammelt – und in der Stadt ein zweites, worin der wohnt, der aufpasst, dass der, der das Geld einsammelt, es nicht für sich behält. Außerdem müssen Wächter aufpassen, dass niemand, anstatt zu bezahlen, um den Baum herumgeht, und wenn viele Halbverrückte kommen, dass sie auf der Seite des Weges gehen, wo die rechte Hand ist. 

Damit aber die Halbverrückten lesen können, was auf den Schildern steht und wie weit es zu der nächsten Schnapsbude ist, müssen Häuser gebaut werden, in denen ein Mann die Kinder haut, bis sie lesen und zählen können. Das dauert acht Jahre. Auch für den Mann muss ein Haus gebaut werden und ein anderes für den, der aufpasst, wann dieser Mann so viel gehauen hat, dass er „Herr Ober“ heißen darf. Dann eines für den, der auf diejenigen aufpasst, die sich „Herr Ober“ nennen, ohne Erlaubnis zu haben oder Metallplättchen über der Brustwarze tragen, bevor sie das dazugehörige Alter erreicht haben.

Damit man aber weiß, wann jemand so alt ist, dass er Metallplättchen (Orden) tragen darf, müssen die Lebensjahre gezählt werden und Bücher geschrieben, in denen man sehen kann, an welchem Tage jeder einzelne aus dem Leibe seiner Mutter gekommen ist. Deshalb müssen Häuser gebaut werden und müssen Wagen umherfahren, bei Tage und bei Nacht. 

Dies also ist, weshalb die Wasungu Wagen gebrauchen, Wege mit Eisenbalken bauen und fortwährend umherfahren.


Sinnlose Kommunikation und Statistik 

Eines aber habe ich noch vergessen zu erwähnen, und es wird Dich vollends in Abscheu oder Erstaunen versetzen: Das Briefschreiben der Wasungu. Dieser Tollheit kann ich in Worten schwer beikommen. Es gibt in Usungu kein Haus, wo nicht täglich ein Bote hinkommt, der Briefe bringt. Was schreiben aber die Wasungu? Was jeder von selbst weiß: „Ich bin hier und trinke“, „Ich komme morgen“, „Der Wagen fährt“, „Das Essen schmeckt“.

Oder sie schicken Bilder, wie sie ein Trinkgefäß vor sich halten und ein dummes Gesicht machen. Oder sie schreiben wegen Geld. Ich will so sagen: Alles, was sie tun und alles, was bewegt wird, schreiben sie noch mal. Deshalb fahren Boten mit Wagen hin und her, und Häuser müssen gebaut werden, in denen die Briefe nachgesehen werden und andere, in denen die wohnen, die aufpassen, wann die, welche Briefe nachsehen, „Herr Ober“ heißen dürfen.

Schließlich müssen die Briefe gezählt werden und wieviele Personen hin und her fahren und wieviele Jahre die Briefboten länger leben als die, die den ganzen Tag Kleider nähen.

Durch alle diese Dinge glauben die Wasungu klüger und besser zu werden, und wenn ein neues Haus gebaut wird, kommen sie zusammen, halten Reden und brüllen: „Hurra! Hurra! Hurra!“, was der Ausdruck höchster Freude ist. Danach gießen sie Flüssigkeit in ihren Hals. 

Die Wasungu haben auch folgende Narrheit: Fragst Du in Kitara: „Wer ist da?“, so ist die Antwort: „Muntu, ein Mensch!“ Die Wasungu aber teilen die Menschen ein nach dem, was sie tun. Sie wollen, dass jeder Mensch nur eine bestimmte Narrheit tue, damit Unterschiede entstehen und sie mehr zählen können. 

Der Zahlenkarl führte mich in ein Haus, in dem viele Männer Messer schliffen. Sie sahen sehr blass aus. Ich fragte, wo diese Menschen ihren Acker hätten, worauf mir geantwortet wurde, sie täten nie etwas anderes, als Messer zu schleifen; nur dadurch könne man mit Bestimmtheit sagen, dass Menschen, die jeden Tag Messer schliffen, schon mit 30 Jahren sterben. Und sein Auge leuchtete vor Freude, als er mir mitteilte, dass ein ebenso kurzes Lebensalter die Menschen hätten, die jeden Tag nichts anderes täten, als den armen Schluckern in den Steinhöhlen (Bergbau) Leichenteile (Fleisch), Pombe (Bier) und Rauchrollen (Zigarren) zu bringen. 

Als ich vor Schrecken über diese Verrücktheit den Kopf schüttelte, sagte Karl, ich könne nicht zweifeln, das sei wissenschaftlich einwandfrei festgestellt und man hoffe, mit der Zeit noch genauere Zahlen zu bekommen. Als ich fragte, wozu denn diese Zahlen nötig seien, erzählte er mir eine Narrheit, die kein Mensch glauben wird.


Lebensversicherung

Aber höre: Sie bezahlen jedes Jahr eine Summe Geld; das wird von Menschen, die dazu in einem Hause wohnen, gesammelt und aufgeschrieben und nach dem Tode den Verwandten bezahlt. Sie glauben, dadurch glücklicher zu sein. Da bezahlt nun ein Messerschleifer eine andere Summe als ein Landbauer, weil die Zahlenkerle wissen, dass die Menschen mit verschieden Berufen verschieden lange leben. Damit diese Rechnung stimmt, muss jeder bei seiner Arbeit bleiben und darf nie etwas anderes tun. Wegen dieser Narrheit müssen also wieder Häuser gebaut und Briefe geschrieben werden und Wagen fahren hin und her. Hast Du es verstanden? 


Unrast, Hektik, Unordnung

So wirst Du jetzt wissen, was eigentlich diese Wasungu tun und weshalb sie immerfort etwas tun. Ich sage es Dir: Sie sind fortgesetzt in Bewegung, um einander in der Ruhe zu stören, um dafür zu sorgen, dass alle Menschen fortwährend durcheinander laufen müssen und nicht zum Nachdenken kommen. Nun beschäftigen sie sich aber damit, in die Unruhe eine Ordnung zu bringen, auf die sie stolz sind. Sie vergessen dann, dass sie selbst erst die Unruhe gemacht haben, die gar nicht nötig war, und sprechen dann von der Ordnung. 

Nein, Lieber, Du kannst es nicht verstehen. Du wirst an Kitara denken. Wozu Ordnung? Die Berge sind da, und in den Tälern fließen die Bäche. Ist das Wasser angeschwollen, so wartet man, bis es sich verläuft.

„Amri ya Mungu.“ „Es ist Gottes Befehl“, murmelt der Wanderer und fügt sich in Demut. Die Ordnung aber ist gegen das Gebot Gottes, und seine Strafe bleibt nicht aus. Ich werde später von der Strafe sprechen. Diese Strafe ist gerecht; denn es sind unnütze Dinge und eine selbstgewollte Unordnung, in die von unnützen Menschen Ordnung gebracht wird. 


Berufe

Da wohnte ich bei einem Manne, der Lenker ist auf einem Wagen, der auf Eisenbalken fährt. Ich begleitete ihn und ließ mir sagen, was die einzelnen Wasungu tun, die in dem Wagen fahren. Ein Mann fuhr mit, der baut Eisenteile für die Wagen. Daneben stand ein Mann mit einem Schwert und einer Metallspitze auf dem Kopf. Er hat aufzupassen, dass die Wagen auf der Straße keinen Sungu überfahren, und aufzuschreiben, wenn einer getötet wird. 

Dann stieg ebenso ein Spitzkopf auf den Wagen, dessen Arbeit darin bestand, aufzupassen, dass der andere ihn auch ja ansah, die Beine zusammenklappte und die Arme an den Leib presste, was ein Gruß ist. 

Dann saß da eine Frau mit einem roten Kreuz auf dem Arm. Sie verbindet die Menschen, die überfahren werden. Dann ein Mann, der die Hunde fängt, die keine Münze am Halse tragen.

Daneben saß ein Mann, der in einem Hause Rauchrollen machen lässt. Dann einer, der Pillen gegen die Krankheiten verkauft, die durch Rauchstinken entstehen. Dann ein Zahlenkerl, der aufschreibt, welche Menschen Geld bezahlt haben für den Fall, dass sie überfahren werden. Wozu das ist, schreibe ich später. Dann einer, der die Kohlen verkauft, mit denen die Wagen getrieben werden, und einer, der die Bücher macht, in denen geschrieben steht, wann die Wagen fahren. Jeder einzelne trägt einen Zeitzeiger auf seinem Bauche und sieht nach, sobald der Wagen hält und sobald er weiterfährt.

Dann saß da ein Mann mit Glasstücken vor den Augen. Seine Arbeit war, darüber zu reden, wie es früher war und wie es jetzt ist. Er sagte mir, dieser geordnete Verkehr sei ein Zeichen der hohen Kultur der Wasungu.

Es habe einmal eine Zeit gegeben, wo noch keine Eisenbalken auf dem Wege lagen, den wir entlangfuhren. Damals hätte jeder gesagt, es sei nicht nötig, dass hier Wagen fahren, und es würde keiner mitfahren, und jetzt sehe man, welch gewaltigen Aufschwung der Verkehr durch den Bau der Wagen genommen habe. 

Ich aber fand, dass alle diese Narren nur unterwegs waren, nicht um zu leben und Gutes zu arbeiten, sondern nur, damit die Wagen fahren können oder damit das wiedergutgemacht werde, was durch das Hinundherfahren an Schaden entsteht. Wenn alle diese Narren auf ihrem Acker blieben und bei ihren Kindern, dann bräuchten keine Wagen auf Eisenbalken zu fahren, und wenn keine Wagen führen, könnten alle einen Acker haben und glücklich sein. 


Eisenbahn und Zeitzeiger

Deshalb hüte, Kigeri (Name des Königs), Dein schönes Land vor der Ordnung der Wasungu, vor den Wagen und Eisenbalken und verbiete, dass Zeitzeiger in das Land gebracht werden, durch deren Anblick die Menschen auf Narrheiten gebracht werden. Menschen brauchen keine Zeitzeiger. Bei Tagesgrauen kräht der Hahn. Bei Tage ist es hell, bei Nacht dunkel. Morgens geht die Sonne auf, mittags steht sie ganz hoch und abends geht sie unter. Das Leben aber endet mit dem Tode. Nur dies braucht der Mensch zu wissen. Wo aber Wagen fahren, da müssen Zeitzeiger sein und wiederum Menschen, die diese Zeiger machen und in Ordnung halten, und daraus entsteht all die andere närrische, ganz unnütze Arbeit, bei der alle Menschen krank und freudlos werden. 

Zeitzeiger

Ich finde, dass diese Zeitnarren alle nur durcheinanderlaufen, damit die Wagen fahren, und dass sie fahren, um durcheinander zu laufen und einander zu behindern. Ich habe von Dingen geschrieben, die den Weisen von Kitara fremd bleiben sollen, wenn sie Menschen bleiben wollen. 

Dich grüßt Dein getreuer 

Lukanga

Von am 22.09.2024


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